Ende August diesen Jahres verstarb Rudolf Ziesche, dessen Person untrennbar verbunden ist mit der Erschließung von Gerhart Hauptmanns Manuskriptnachlaß. Die Gerhart-Hauptmann-Gesellschaft e.V., Berlin, trauert um ihr Ehrenmitglied.
Die Stationen seines äußeren Lebens sind schnell aufgezählt: Er wurde geboren in Halle an der Saale, wo er aufwuchs und ein Studium der evangelischen Theologie absolvierte. Danach suchte er nicht den Weg in den kirchlichen Dienst, sondern fand über ein Projekt zur Erschließung historischer Quellen schließlich seine berufliche Heimat als wissenschaftlicher Angestellter in der Handschriftenabteilung der Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz. Dort wurde ihm im Oktober 1969 die Aufgabe der Erschließung des Hauptmann-Nachlasses übertragen, den die Stiftung Preußischer Kulturbesitz 1968 für die damals immense Summe von 3,8 Millionen D-Mark erworben hatte, und zwar einschließlich der gegen den Willen der Erben in Ost-Berlin und auf Hiddensee zurückgehaltenen Teile des Nachlasses. Allerdings waren erst nach der deutschen Wiedervereinigung die Voraussetzungen dafür gegeben, auch den Hauptmann-Nachlaß zu vereinigen. Rudolf Ziesche engagierte sich für diese Zusammenführung besonders, weil er sich bei der Erschließung des Nachlasses stets mit den absurden Folgen der deutschen Teilung konfrontiert sah, vielleicht aber auch, weil seine eigene Biographie durch Mauerbau und Kalten Krieg mitbestimmt worden war.
Die Erschließung des Nachlasses war eine gigantische Aufgabe, denn allein der Manuskriptnachlaß umfaßt über 100.000 beschriebene Seiten. Rudolf Ziesche erkannte die Notwendigkeit einer von Anfang an inhaltlich tiefen Erschließung, und so entwickelte sich das Unterfangen zu einer Lebensaufgabe. Beständig bemüht, die Erschließungsarbeiten zu professionalisieren, hatte er für einen Geisteswissenschaftler seines Jahrgangs sehr früh die Möglichkeiten der elektronischen Datenverarbeitung auch für die Nachlaßkatalogisierung erkannt. Heute kann man nur staunen, welche Schwierigkeiten er überwinden mußte, um seine Vision in die berufliche Praxis einer großen Behörde umzusetzen. Da in der Bibliothek an geeignete Ausstattung nicht zu denken war, setzte er seit 1985 mit Erlaubnis seines Vorgesetzten zunächst einen privat beschafften Computer ein. Der Personalrat aber befürchtete, daß sich hier jemand ›eine Karriere erschleichen‹ könne – und die Folge war ein vierjähriges Verwaltungsgerichtsverfahren bis zur höchsten Instanz. Der abschließende Beschluß des Bundesverwaltungsgerichts beschreibt den Konflikt wie folgt:
»Der wissenschaftliche Angestellte Z. benutzt mit Erlaubnis der Verwaltung der Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz in der dortigen Handschriftenabteilung für die Hilfsarbeiten, z.B. das Anlegen, Sortieren und Führen verschiedener Karteien und Kataloge, einen ihm gehörenden privaten Kleincomputer. Der Antragsteller, der Personalrat der Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz, beanstandete mit Schreiben vom 22. November 1985 an den Beteiligten, den Generaldirektor der Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz, daß er über den Einsatz dieses Computers nicht unterrichtet und auch nicht um Zustimmung gebeten worden sei. Er forderte den Beteiligten auf, zu veranlassen, daß sofort die Arbeit an dem Gerät eingestellt werde. Der Beteiligte wies die Beanstandung mit dem Hinweis zurück, Beteiligungsrechte des Antragstellers seien nicht berührt. Es bestehe kein Anlaß, dieser Privatinitiative entgegenzutreten und dem Mitarbeiter die Benutzung des Geräts zu verbieten.« (BVerwG, 6. Senat, Beschluß vom 12.10.1989, Aktenzeichen: 6 P 9/88)
Wenn Rudolf Ziesche Jahre später davon erzählte, konnte er über die Angelegenheit nur lächeln, da die Entwicklung in den Bibliotheken zwischenzeitlich seinen damaligen Vorstoß längst überholt hatte. Man spürte aber trotzdem noch, wie ihn die Unterstellung der unzutreffenden Motivation getroffen hatte, denn Karriere zu machen, war ihm nicht wichtig. Ihm ging es viel mehr um die Sache, und wenn er von seiner Sache überzeugt war, vertrat er sie auch gegenüber Vorgesetzten mit großem Engagement, selbst wenn die Konsequenzen unbequemen Aufwand nach sich zogen. In der Folge erklärten ihn manche Vorgesetzte und Kollegen für ›schwierig‹. Man konnte aber durchaus den Eindruck gewinnen, daß er das eher als Auszeichnung empfand, auch wenn er es, diskret wie er stets war, wohl nicht so deutlich formuliert hätte.
Die Bedeutung seiner Arbeit für die Hauptmann-Forschung kann nicht hoch genug geschätzt werden. Seit er mit der Erschließung des Nachlasses begonnen hatte, fand man in philologischen Arbeiten über Hauptmann regelmäßig den Dank an Rudolf Ziesche. Bis zur Fertigstellung des Katalogs einschließlich Register (der dritte Band und der Registerband erschienen 2000) war man auf seine Hinweise angewiesen. Die bekam man zunächst in Telefonaten aus dem Handschriftenlesesaal oder, wenn der Erstkontakt hergestellt war, auch bei einem Besuch in seinem Büro ein Stockwerk tiefer. Und hatte man einmal sein Vertrauen erworben, gab er nicht nur formale Auskunft aus den während der Katalogisierung in einer Datenbank gepflegten Registern, sondern meldete sich gelegentlich auch von selbst, wenn er auf etwas gestoßen war, von dem er wußte, daß es in den Kontext entstehender Arbeiten passen könnte. Da die Benutzung des Nachlasses, auch der noch nicht katalogisierten Konvolute, von Anfang an möglich war, kam es immer wieder vor, daß man etwas bestellte, was gerade bei Rudolf Ziesche im Büro lag: zur Katalogisierung oder für Recherchen bei der Katalogisierung anderer Manuskripte. Denn Ziesche katalogisierte nicht nur formal, sondern erschloß die Manuskripte mit beträchtlicher inhaltlicher Tiefe und Verknüpfung zu anderen Teilen des Nachlasses wie Briefe und Bibliothek. Sein Katalog des Manuskriptnachlasses ist nicht weniger als die Vorstufe einer historisch-kritischen Hauptmann-Ausgabe, und er ist um so wichtiger, als es diese Ausgabe kaum jemals geben wird, weil die Menge des Materials mit den traditionellen Mitteln der Textkritik nicht mit vertretbarem Aufwand zu bewältigen ist.
So unentbehrlich der Katalog zum Manuskriptnachlaß für den Hauptmann-Forscher ist, so bescheiden schätzte Rudolf Ziesche seinen persönlichen Anteil an der Hauptmann-Philologie ein. In einem Brief schrieb er 2003 einmal: »Mit der Öffnung des Nachlasses sind ja zunächst – archäologisch gesprochen – Oberflächenbefunde gesammelt, betrachtet und publiziert worden. Ich war immer der Meinung, man müsse zum Verständnis von Hauptmanns Verhältnis zur Gesellschaft und zur Politik tiefere Schichten aufschließen […].« Das war zum einen die für seine Bescheidenheit charakteristische Einordnung des Katalogs auf eine zwar hilfreiche und notwendige, aber eben doch nur Vorarbeit für die Interpretation von Hauptmanns Werk und der Funktion seiner Persönlichkeit für das literarische Leben in Deutschland; zum anderen kritisierte er damit zugleich frühe Veröffentlichungen aufgrund des Nachlasses, die ebenfalls an der Oberfläche geblieben waren und, anders als seine Manuskriptbeschreibungen, dies nicht hätten tun dürfen.
Bemerkenswert war nicht nur Rudolf Ziesches Gründlichkeit bei der Nachlaßerschließung und seine Beharrlichkeit, zeitgemäße technische Mittel einzusetzen, sondern auch seine Integrität. Da er seine berufliche Tätigkeit nicht mit privaten Interessen in Konflikt bringen wollte, stimmte er erst nach Eintritt in den Ruhestand dem Vorschlag der Mitgliederversammlung zu, ihn als Ehrenmitglied in die Gerhart-Hauptmann-Gesellschaft e.V., Berlin, aufzunehmen. Zurückhaltend und diskret blieb er auch als Ehrenmitglied. Seine Nachfragen und Hinweise zeigten aber, daß er aufmerksam verfolgte, was an Rundschreiben, Literaturhinweisen und Veröffentlichungen an die Mitglieder gelangte. Der Weg von Berlin nach Erkner zur jährlichen Mitgliederversammlung war ihm zuletzt aus gesundheitlichen Gründen meist zu beschwerlich. Überdies hatte der frühe Tod seiner Frau Eva Ziesche (1939–2005) seine Lebensfreude mehr als gedämpft, denn dadurch fand eine jahrzehntelange private, aber auch berufliche Symbiose ein abruptes Ende: Eva Ziesche war wie ihr Mann Mitarbeiterin der Handschriftenabteilung in der Staatsbibliothek; seit 1966 hatte sie mehr als 50 Nachlaßverzeichnisse erarbeitet, darunter den Katalog von Hegels handschriftlichem Nachlaß, für den ihr der Akademiepreis der Bayerischen Akademie der Wissenschaften verliehen wurde.
Als im November 2012 der Festakt zum 150. Geburtstag Gerhart Hauptmanns in der Staatsbibliothek stattfand, wenige hundert Meter von Rudolf Ziesches Wohnung entfernt, war er wieder unter den Gästen und durfte die späte, nun auch in der Staatsbibliothek öffentlich geäußerte Anerkennung in Grußworten und Festvortrag wahrnehmen.
Die Gerhart-Hauptmann-Gesellschaft wird ihm ein ehrendes Angedenken bewahren.